Wir können Krise
von Ulrich Wiltschko, Vorstandsvorsitzender und Gründer von NEUE WEGE
Eine Krise lässt uns schwach erscheinen.
Alte bewährte Muster greifen nicht mehr. Bekannte Strukturen und gewohnte Abläufe funktionieren nicht mehr so gut. Arbeits-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen können auf eine harte Probe gestellt werden. Manch lockerer Kontakt hat sich in der Krise zu einem festen entwickelt, manche Beziehungen gingen in die Brüche.
In einer Krise fühlen wir uns zeitweise verunsichert, schwach und orientierungslos. Manchmal nur Einzelne, manchmal auch alle. In der Pandemie die ganze Welt.
Krisen sind Risikozeiten.
Es kann schief gehen. Die Schwäche kann sich in Antriebslosigkeit verwandeln, die Strukturlosigkeit zum Unkontrollierbaren werden, die Furcht zu Angst und Hass mutieren. Die Krise kann spalten – Familien, Freunde, Gesellschaften. „Wir werden einander viel verzeihen müssen,“ sagte Jens Spahn zu Beginn der Pandemie. Uns selbst und den anderen.
Krisen sind Krankheiten.
Und wie Krankheiten haben sie einen spezifischen Verlauf und treffen oft die Schwachen einer Gesellschaft. Krisen bergen aber immer auch Möglichkeiten. Nach Kinderkrankheiten beobachten Eltern oft einen Reifungs- und Entwicklungsschub.
Krisen gehören dazu.
Jeder Mensch hat Krisen, jede Familie, ganze Organisationen, die ganze Welt. Nach großen Pandemien, der Pest zum Beispiel oder der Spanischen Grippe, haben sich die betroffenen Gesellschaften ungewöhnlich kreativ, produktiv und wirtschaftlich erfolgreich entwickelt.
Wir von NEUE WEGE sind Krisenexpert*innen.
Wir von NEUE WEGE arbeiten mit Kindern, Jugendlichen, Familien – viele davon in einer Krise. Wir kennen unsere eigenen persönlichen Krisen.
Der erste Schritt zu einem heilsamen Umgang mit Krise ist – wie so oft – die Anerkennung der Krise. Dadurch wird uns klar: Das ist nicht Alltag, das ist was Besonderes. Unter dieser Prämisse kann Veränderung stattfinden. Oder wie wir es in unserem NEUE WEGE-Leitbild beschreiben: „Es ist wie es ist und es ist gut so. Das ist die Voraussetzung für Veränderung.“
Die unangenehmen Gefühle in einer Krise erst einmal zu ertragen, nicht wegzuschauen oder mit den üblichen Abwehrmechanismen darauf zu reagieren, ist die herausfordernde Aufgabe, derer wir uns bei NEUE WEGE annehmen:
- Nicht zu projizieren: „Die Anderen, die Chinesen, der Präsident, Wirtschaftstycoone sind schuld.“
- Nicht zu verschieben: Beispielsweise die Vorsicht vor der Ansteckung hin zu einer generellen Angst vor den Mitmenschen.
- Nicht zu verdrängen: Wenn wir die tatsächliche (Infektions-) Gefahr verdrängen und aus unserem Bewusstsein verbannen, führt das dazu, dass wir diese Gefahr irgendwann „vergessen“, also keinen Zugang mehr zu den Themen haben und unsere Vorsicht völlig aufgeben.
- Nicht zu spalten: Beispielsweise die Bedrohung auf Minderheiten oder Andersdenkende zu verschieben, die dann dafür verantwortlich gemacht werden.
Anna Freud hat in ihrem bahnbrechenden Werk: Das Ich und seine Abwehrmechanismen in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts dazu veröffentlicht. Ihre Theorien wurden seither ausführlich und sehr lesenswert weiterentwickelt. (Phebe Cramer 2006, Karl König 2007; e.a.)
Das grundsätzliche Dilemma bei Abwehrmechanismen ist, dass sie uns zwar schützen, gleichzeitig jedoch eine bewusste Bearbeitung erschweren oder sogar unmöglich machen. Sie können dadurch innerpsychischen wie gesellschaftlichen Schaden anrichten.
Der Weg aus diesem Dilemma ist, wie erwähnt, zunächst anzuerkennen, dass es eine Krise ist. Und daraufhin die damit verbundenen unangenehmen Gefühle zu durchlaufen.
In dem Gefühl der Unsicherheit, des Nicht-Wissens, der Ohnmacht oder Schwäche ein kleine Weile zu verharren, diese zu ertragen, zu würdigen und ja, auch wert zu schätzen, das ist die Voraussetzung für Veränderung.
Nimm Dir ein paar Augenblicke Zeit, eines dieser Gefühle in Dir zu zu lassen. Beobachte es. Wo spürst Du es? Wie sieht es aus? Entsteht ein inneres Bild? Gibt es ein Geräusch von sich? Was spricht es? Ist ein Geruch damit verbunden? Ein Impuls? Eine Bewegung?
Bleibe einige Augenblicke mit dem negativen Gefühl, wehre es nicht ab.
Habe nicht immer gleich Lösungen parat. Glaube nicht gleich zu wissen. Ertrage einige Augenblicke die Unsicherheit, die Angst, Deine Schwäche, Ohnmacht, Wut, was auch immer. Schau mit freundlichen Augen auf Dich und Deine Empfindungen.
Schätze sie.
Verzeihe Dir!
Das sind gute Voraussetzungen für Veränderung und Weiterentwicklung. Mit dieser Haltung kannst Du das unangemessene Verhalten Deiner Klient*innen, Deiner Partner*innen oder Deiner Kinder respektieren. Nicht akzeptieren, nur erst einmal anerkennen, ohne abzuwehren.
Wir wissen nicht, was das Beste für das Kind, die Familie, den Jugendlichen ist. Wir haben Ideen, Vorschläge, Erfahrung, was wir für das Beste halten – wissen tun wir es nicht. Das vorzugeben wäre anmaßend. Gerade das Innehalten, der kurze Moment des Nicht-Wissens, ist unglaublich wertvoll. Für uns selbst und für unser Gegenüber.
Keiner wusste vor zwei Jahren im Oktober 2019 – und selbst jetzt immer noch nicht genau – was diese Pandemie ist, was da auf uns zu kommt. Politiker*innen, die dem Unsicherheitsdruck nicht standzuhalten glaubten, ergingen sich in Durchhalteparolen: „..noch diese drei Wochen, … diesen Herbst, zwei Monate…“. Keiner wusste Bescheid.
Krisen sind Zeiten der Entscheidung.
Altgriechisch heißt krisis Entscheidung.
Ich bin froh, dass wir von NEUE WEGE auch in dieser Pandemie erprobte Krisenmanager*innen sind und bisher eine ziemlich gute Figur gemacht haben. Unsere Geschäftsführerin hat uns gut durch diese Krise gemanaged und jede*r Einzelne von Ihnen hat ihren und seinen Beitrag dazu geleistet.
Wir, vor allem die Sozialpädagog*innen, mischen uns ein. Wir teilen unsere Haltungen und Werte mit, nicht als allgemeingültige eherne Wahrheiten, sondern als unsere Haltungen und Werte (wie im NEUE WEGE Leitbild beschrieben). Dazu gehört auch, dass wir zum Schutz des Individuums und zum Schutz von allen die Vorzüge einer Schutzimpfung mit den Unsicheren, Uninformierten und Unentschlossenen besprechen.

Sie sehen den NEUE WEGE-Jahresbericht 2019/2020 vor sich. Das Ergebnis von zwei Jahren Arbeit von uns allen und das Ergebnis von einigen, die sich kümmern, sammeln, redigieren und diesen Bericht publizieren. Auch ihnen gilt heute unser Dank ebenso wie allen Kooperationspartner*innen der freien und öffentlichen Träger, die in dieser Krisis mit uns NEUE WEGE gegangen sind.
Ulrich Wiltschko, Vorstandsvorsitzender